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Welche Gründe hat die ungenügende ökonomische Entwicklung der neuen Bundesländer?

Vorwort

Im AICGS Advisor, October 16, 2009, erschien der Artikel "What Happened to the Blooming Landscapes?" von Jennifer Hunt. In diesem Artikel wird die ökonomische Entwicklung der neuen Bundesländer mit der Entwicklung von Tschechien nach 1990 verglichen. Es wird festgestellt, dass sich Tschechien ohne westdeutsche Transferleistungen ökonomisch besser entwickelt hat, als die ostdeutschen Regionen.
Dieser Vergleich interpretiert richtige Fakten falsch. Beide Regionen haben eine völlig verschiedene Entwicklung genommen. Ich schreibe diesen Text als Westdeutscher, der seit 10 Jahren in den neuen Bundesländern arbeitet. Als Arzt habe ich täglich die Nöte und Sorgen der Bürger aus den neuen Bundesländern vor Augen. Meine Erfahrungen mit der Wiedervereinigung könnten auch für amerikanische Bürger von Interesse sein, um die spezielle Entwicklung in Deutschland zu verstehen. Auch die Koreaner sehen mit großem Interesse auf die Entwicklung nach der Wiedervereinigung, da ihnen wahrscheinlich ähnliches bevorsteht.

Situation in der DDR

Für den mit der DDR nicht so vertrauten Menschen möchte ich zunächst die Situation vor der Wende darstellen. Die Menschen der DDR empfanden sich als ökonomisch benachteiligt gegenüber ihren Landsleuten in Westdeutschland. Dieser Kontrast wurde durch westdeutsche Fernsehwerbung und das völlige Fehlen mancher Importwaren, wie z.B. Bananen, sehr stark empfunden. In Wirklichkeit war der Lebensstandard der DDR-Bürger höher als der in vielen Teilen Westeuropas. So litten die Bürger in Griechenland, Portugal, Italien, Irland und weiten Teilen Englands unter viel größerer Armut. Der DDR-Bürger verglich sich aber mit dem damals wohlhabenden Westdeutschland, welches auf der Höhe seiner ökonomischen Entwicklung angekommen war.
Bemerkenswert ist auch die grenzenlose Bewunderung der USA durch die DDR-Bewohner. Während man den "großen starken Bruder jenseits des Atlantiks" in Westdeutschland ziemlich realistisch beurteilte, hatten die DDR die USA zwar offiziell als Klassenfeind bekämpft, die Bevölkerung war aber voll ehrfurchtsvoller Bewunderung für das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Kanzlerin Angela Merkel hat diese Verehrung der USA bis heute beibehalten. Auch haben Eltern in der DDR ihren Kindern gern amerikanische Vornamen gegeben. Der Vorname Kevin z.B. wurde fast ausschließlich von Eltern in der DDR vergeben.
Ein weiteres Merkmal war die scheinbare Sicherheit des Normalbürgers. Jeder noch so unfähige oder alkoholkranke Mensch musste per Anordnung in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Wenn er nicht zur Arbeit erschien, so wurde er von Kollegen wohlwollend von zuhause abgeholt. Auch junge Mütter hatten alle Unterstützung des Staates. Bereits wenige Wochen nach der Geburt konnten sie ihre Baby in Versorgungseinrichtungen abgeben und nach getaner Arbeit wieder abholen. So konnten sie ungehindert als junge Mütter studieren oder arbeiten. Auch von ihren Ehemännern waren die Frauen trotz Kinder weitgehend unabhängig.

Die Wende in der DDR

Die repressive Natur des DDR - Regimes wurde nur von solchen Menschen empfunden, die höhere Ansprüche oder Bildung hatten. Auch gab es für den Normalbürger keinen Zweifel am Fortbestand dieses System, was viele veranlasste, sich zu arrangieren und für das System zu arbeiten. Der große emotionale Ausbruch 1989 hat einen großen Teil der DDR - Bevölkerung gar nicht berührt. Den meisten ging es um Verbesserung der ökonomischen Situation, die Durchsetzung von Reformen und um Reisefreiheit. Mehrere Mitglieder des "Neuen Forums" haben mir versichert, dass die politisch aktiven Gruppen gar keine Wiedervereinigung wollten, sondern eine bessere DDR. Bei den kleinen Leuten in der DDR war der Westen so etwas wie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sehr bald sollten sie erkennen, dass sie aus dem Fernsehen nicht die Realität des Lebens in der BRD erfahren hatten. Jedenfalls machten sich im Rahmen der Wende etwa 2 Millionen Menschen überwiegend zwischen 20 und 30 Jahre alt auf den Weg in den Westen. Damit verlor die ehemalige DDR rund ein Drittel ihres produktiven Nachwuchses.
Jennifer Hunt zitierte am Anfang ihres Artikels Altbundeskanzler Helmuth Kohl mit seinem berühmten Satz von den "blühenden Landschaften". Man muss aber die politische Lage zu diesem Zeitpunkt kennen. Abertausende von DDR - Bürgern packten ihre Koffer und wanderten gen Westen. Es musste etwas unternommen werden, damit die Leute im Osten blieben, um das Land zu erhalten und aufzubauen. Ohne solche Versprechungen wären noch viel mehr Menschen ausgewandert.

Der Plan der westdeutschen Politiker

Der Plan war, ostdeutsche Betriebe an westdeutsche, kapitalkräftige Firmen zu verkaufen, damit diese saniert würden. Die westdeutsche Industrie hatte damals ein gutes Kapitalpolster angespart, aber die Fabriken waren nur zu ca. 60% ausgelastet. Man brauchte gar keine neuen Produktionsstätten. Man brauchte Märkte! Und die hoffte man über ostdeutsche Verbindungen in Osteuropa zu finden. So war es konsequent, ostdeutsche Firmen für geringes Geld zu erwerben, die reichlich fließenden Fördermittel zu kassieren, dann die Produktion stillzulegen und nur ein Verkaufsbüro zu erhalten. Ich habe selbst erlebt, wie ein Spanplattenwerk, welches durch Fördermittel mit modernsten Maschinen ausgestattet war, für eine DM an einen westdeutschen Spanfaserfabrikanten verkauft wurde. Dieser wartet nur die Sperrfrist ab, und transportierte dann alle neuen Maschinen nach Westen, um seine eigenen, veralteten Maschinen verschrotten zu können. So oder ähnlich wurden fast alle Produktionsbetriebe der neuen Bundesländer zerstört.

Verlust von Leistungsträger und Führungspersönlichkeiten

Der nächste fatale Schritt war der Verlust der Leistungsträger. Führungspositionen und Leistungsträger waren ganz überwiegend mit dem DDR - Regime verbunden gewesen. Ein Teil von ihnen wurde abgelöst, die anderen gingen freiwillig. Da sie häufig für das Regime gearbeitet hatten, fürchteten sie zu recht Racheaktionen oder zumindest Laufbahnnachteile, wenn sie in den neuen Bundesländern blieben. Im Westen wurden sie als hoch motivierte Arbeiter gerne angenommen und keiner interessierte sich für ihre SED-Vergangenheit.
Bei Licht betrachtet hatten die DDR - Führungskräfte auch keine reale Chance ihre Position zu halten. Sie hatten zwar Menschenführung gelernt, konnten diese Form der Menschenführung aber nicht weiter anwenden. Jetzt war kooperatives Führen anstelle von Repressionen gefragt. Ein weiterer Mangel war das Fehlen von Kapitalismuserfahrungen. Zum Führen eines Betriebes reicht es eben nicht, die Angestellten anzuleiten, sondern man muss auch die ökonomischen Dinge regeln können. Für leitende Angestellte in Firmen und Behörden war auch eine gute Kenntnis der Rechtssysteme wichtig. Das bisher geltende Recht wurde aber vollständig durch westdeutsches Recht ersetzt. Dadurch waren die alten Kader wieder im Nachteil.
Die fehlende Führungsschicht wurde in den neuen Bundesländern häufig durch zweitklassige Führungskräfte aus dem Westen ausgeglichen. Diese erhofften sich hier eine schnelle Karriere. Oft waren sie nicht in der Lage, auf die Situation im Osten einzugehen.

Firmen ohne Eigenkapital

Ein weiteres Problem war der Mangel an Eigenkapital. Viele Neugründungen scheiterten nach kurzer Zeit daran, dass die Firmen kein Eigenkapital hatten und bei der kleinsten Kriese sofort Insolvenz anmelden mussten. Da bei fast allen Firmen Eigenkapital fehlte, löste eine Pleite durch Zahlungsausfälle oft eine ganze Kaskade weiterer Pleiten aus.

Bruch in der Biografie

Auch für andere Menschen der DDR bedeutete die Wiedervereinigung einen krassen Bruch in der Biografie. Insbesondere die Menschen zwischen 30 und 50 Jahre konnten ihren Lebensplan nicht weiterführen. Einige schafften die Wende und gingen meistens mit den neuen Fähigkeiten in den Westen. Andere scheiterten. Zum Beispiel hatte die DDR sehr gute Ingenieure. Diese planten aber noch am Reißbrett. Nach der Wende wurden nur solche Ingenieure gesucht, die in der Lage waren mit elektronischen Planungssystemen, wie z. B. AutoCAD umzugehen. Diese fanden fast ausnahmslos erneuter Anstellungen. Die andere Hälfte der älteren, früher sehr tüchtigen Ingenieure schaffte diese Wende nicht mehr und blieb arbeitslos oder schlug sich mit unterwertigen Tätigkeiten durch.
Ein Beispiel mag dies erläutern: Am Sterbebett seiner krebskranken Frau traf ich deren Ehemann, der mir unter Tränen seine Lebensgeschichte erzählte, die mich betroffen und ratlos machte. Als Diplom-Ingenieur wurde er in der DDR - Zeit aufgefordert, sich für die Partei einzusetzen. Er hielt dies für eine gute Sache und machte im Wesentlichen technische Planungen im Auftrage der Regierung. Mit einem Sturz der Regierung hatte er nie gerechnet. Für ihn war die Welt in Ordnung. Nach der Wiedervereinigung verlor er seine Stellung und galt plötzlich als Regierungsspitzel. Dieser Vorwurf traf ihn hart. Alle Versuche einer Bewerbung scheiterten. Schließlich bewarb er sich erfolgreich im Hamburger Hafen als Schauermann. Es war eine schmutzige, harte Arbeit für einen studierten Diplom - Ingenieur, aber er verdiente gutes Geld und war zufrieden. Schließlich erfuhr ein Gewerkschaftler von seiner Vorbildung als Diplom-Ingenieur. Daraufhin verlor er auch diese Stellung unter Hinweis auf eine Überqualifikation. Jetzt verstand er die Welt nicht mehr. Er griff zur Flasche und trank so lange, bis er eine nicht heilbare Leberzirrhose entwickelte.

Entmischung der Bevölkerung

Inzwischen ist weit über die Hälfte der leistungsfähigen Jugendlichen in den Westen gewandert. Zurückgeblieben sind Menschen, die entweder zu alt waren, um sich den neuen Arbeitsbedingungen anzupassen oder die nicht leistungsfähig genug waren, um im Westen eine Anstellung zu finden. Es hat eine tiefgreifende Entmischung der Bevölkerung stattgefunden.

ökonomische Folgen der Schrumpfung

Das Schrumpfen der Bevölkerung hat auch erhebliche ökonomische Konsequenzen. Wenn in einer Region die Zahl der Menschen abnimmt, so werden Wohnungen nicht wieder besetzt und verfallen. Das hat auch Konsequenzen für die noch bewohnten Gebäude. Es ist schwierig, Investoren für Gebäude zu finden. Diese Investoren müssen fürchten, dass die erworbenen Gebäude leer stehen bleiben und sie ihr Geld verlieren. Dadurch wird wenig in Gebäudeerhaltung und Gebäudeneubau investiert.

Vergleich Tschechien - DDR

Aus dem bisher gesagten ist leicht erkennbar, dass die Verhältnisse in den neuen Bundesländern nicht mit Tschechien vergleichbar sind. Tschechien hat nicht so eine tief greifende Entmischung der Bevölkerung erlebt. Bis auf wenige Auswanderer ist die Bevölkerung der Tschechei gleich geblieben. Auch kapitalkräftige Fremdeinflüsse spielten hier keine Rolle.

Positives im Osten

In den neuen Bunderländern gibt es allerdings auch positive Aspekte: Einige junge Frauen verlassen die Region nicht, weil sie Familien gründen wollen. Auch wenn die absolute Zahl an Kindern gering ist, so ist die Geburtlichkeit der vorhandenen jungen Frauen keineswegs gering. Diese jungen Frauen binden ihre Eltern und Schwiegereltern ganz selbstverständlich in die Versorgung der Kinder mit ein. Dadurch können sie berufstätig sein und haben eine finanzierbare Kinderbetreuung. Dieses Modell verstärkt den Zusammenhalt der Familien. Ich habe es in meiner ärztlichen Tätigkeit selten erlebt, dass für alte und kranke Menschen keine Familienangehörigen zur Pflege bereit waren. Bei meiner Tätigkeit in der Großstadt Hamburg bedurfte es großer Anstrengungen, die Nachkommen alter Menschen davon zu überzeugen, für ihre Eltern zu sorgen.
Bei dem Aufbau meiner medizinischen Einheit habe ich die Feststellung gemacht, dass ich in der Region sehr gute zuverlässige Mitarbeiter finden konnte. Allerdings muss man die Natur der Menschen kennen. In mehr als 50 Jahren DDR ist ihnen antrainiert worden, nichts ohne Auftrag zu tun. Jede eigenmächtige Aktivität wurde immer sofort bestraft. Aus diesem Grund ist es erforderlich, explizit zu führen. Dieses wird gewünscht und ist dann auch sehr erfolgreich. Um Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit braucht man sich keine Sorgen zu machen.
Ich lebe weiterhin gern in einer ländlichen Region in den neuen Bundesländern. Die Menschen hier sind weniger hektisch und ertragen schwierige Bedingungen mit großer Ruhe. Auch zeigt sich mehr und mehr, dass in einer zentralen Region Europas große Ressourcen für Unternehmungen zur Verfügung stehen. Meine Prognose ist, dass die Bevölkerung zwar zunächst abnehmen wird, dann aber eine Rückwanderung von unternehmensfreudigen Menschen stattfinden wird, die aus der Enge und Reglementierung der Ballungsregionen kommen und Entfaltungsmöglichkeiten suchen. Es wird dann zu einer teilweisen Neubesiedlung aus Rückkehrern und Neubürgern kommen. Erst dann wird sich auch die ökonomische Situation verbessern.

Impressum                         Zuletzt geändert am 05.09.2015 6:35