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Die Katzen und der Tod

Manche Krankengeschichten bleiben auch nach vielen Arztjahren im Gedächtnis. Frau M. war eine pflegebedürftige Frau Ende sechzig und hatte ein fortgeschrittenes Tumorleiden. Sie war mager, eingefallen und spürte den Tod langsam näher kommen.

Ihre größte Sorge aber waren ihre Katzen. Sie lebte mit über 20 Tieren allein in einem großen Haus. Was sollte nur aus den Tieren werden, wenn sie einmal nicht mehr da wäre. Sie wollte ihr nicht unbeträchtliches Vermögen den Katzen vererben. Das ging aber nicht, da Tiere nach deutschem Recht eine Sache sind und keine erbberechigten Personen. Diese Nachricht verstimmte sie mehr als ihr eigenes bedrohtes Leben. Aber wir fanden eine Lösung. Sie vererbte ihr Geld einem Tierheim. Dieses Tierheim mußte sich im Gegenzug verpflichten, die Katzen in ihrem Haus bis zu deren Lebensende zu versorgen.

Eines Tages machte mich eine Schwester darauf aufmerksam, dass Frau M. einen Sohn habe. Der sei Mediziner und sogar sehr erfolgreich. Ziemlich schnell habe er sich habilitiert und jetzt eine Professur bekommen. In der ganzen Zeit habe sich dieser Sohn nicht ein einziges Mal blicken lassen. So etwas hat mich schon damals sehr erregt. Beruflicher Erfolg darf nicht dazu führen, mit seinen engsten Verwandten zu brechen, auch wenn sie dem gesellschaftlich aufgestiegenen Sohn jetzt unbedeutend oder schrullig erscheinen. Ich wollte diesen Sohn anrufen und ihn sehr deutlich an seine Pflichten erinnern. Ich ging zu Frau M. und bat sie um die Telefonnummer ihren Sohnes.

Zu meiner Überraschung schüttelte sie bitter den Kopf. Nein, sie wolle ihren Sohn in diesem Leben nicht mehr sehen. Zaghaft fragte ich sie nach dem Grund des Zerwürfnisses. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es etwas so bedeutendes gibt, das nicht im Angesicht des Todes verblasst. Nun sagte Frau M., ihr Sohn sei Physiologe und mache Tierversuche. Als forschender Assistenzarzt hatte ich damals selbst viel mit Vorurteilen gegen Tierversuche zu kämpfen. Ich erklärte ihr, dass es ethisch geboten sei, neue Medikamente nicht sofort am Menschen zu testen, sondern die Wirksamkeit zunächst an Tieren zu prüfen. Auch sind die Ergebnisse von Tierversuchen viel exakter als die von Menschen, da Versuchstiere nicht frei herumlaufen und man ihre Lebensbedingungen und Stoffwechselvorgänge viel exakter erfassen und kontrollieren kann als es bei Menschen jemals möglich wäre.

"Ja", sagte Frau M., "es sind aber nicht irgendwelche Experimente." Ich ahnte schon, dass es etwas mit ihren geliebten Katzen zu tun haben mußte. Aus der Schublade des Nachtschranks zog sie einen Zeitungsausschnitt, den ihr Sohn voller Stolz gesandt hatte. Es hatte einen bedeutenden Wissenschaftspreis bekommen. In weiteren Text wurde beschrieben, dass es Experimente an Katzen zur Schlaf- und Wachfunktion waren. Ein Bild zeigte eine Katze mit Elektroden im freigelegten Gehirn. Der Kopf der Katze war in einen Rahmen gespannt, damit das Tier die Elektroden nicht entfernen konnte. Da die Schlaf- und Wachfunktion erforscht wurde, konnte die Katze nicht die gesamte Zeit des Experiments narkotisiert werden. "Solche Experimente darf man nicht machen!", sagte Frau M. bestimmt. Ich mußte erkennen, dass Forscherdrang und wissenschaftlicher Ehrgeiz eine Grenze haben. Die Gewinnung von Erkenntnissen rechtfertigt einiges aber nicht alles. Der arme Junge hatte sein wissenschaftliches und akademisches Ziel erreicht aber seine Mutter verloren. Einige Tage später verstarb Frau M., ohne ihren Sohn noch einmal erwähnt zu haben.


Impressum .....................................................................................Zuletzt geändert am 18.03.2011 18:16