Stadtmensch - Landmensch
Zwischen Stadtmenschen und Landmenschen gibt es verhängnisvolle Missverständnisse. In der Regel blickt der Stadtmensch verächtlich auf den ungebildeten dummen Landmenschen herunter, der nie in der Welt herum gekommen ist und dem der Überblick fehlt. Sogar innerhalb der Stadtmenschen gibt es eine Hierarchie, wobei immer Bewohner größerer Städte auf die Bewohner kleinerer Städte herab blicken. Dabei ist der zufällige Geburtsort in einer Großstadt keineswegs eine Garantie für Klugheit und Bildung.
Die Unterschiede zwischen Stadt- und Landmensch sind aber offensichtlich und werden wahrscheinlich in der frühen Kindheit angelegt. Die Unterschiede bestehen weniger im Bildungsniveau als in dem Empfinden von Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten. Der Stadtmensch
hat in der Regel weniger privaten Wohnraum und kaum Grünflächen, über die er persönlich verfügen kann. Dafür kann er jederzeit das umfangreiche Freizeitangebot der Großstadt wahrnehmen und in der Regel seine Freunde leicht besuchen. Der Landmensch dagegen hat meistens viel mehr Platz und braucht diesen auch. Das ermöglicht ihm, mehr private Dinge zu tun, zum Beispiel Tiere zu halten oder Hobbys zu pflegen, die viel Platz benötigen.
Dafür hat er weniger Auswahl bei der Suche nach Freunden und muss soziale
Beziehungen auch zu Gruppen unterhalten, die ihm nicht liegen, z.B. einer
Dorfgemeinschaft.
In der Stadt leidet der Landmensch unter der Enge und dem permanenten Lärm und Getriebe. Der Stadtmensch wiederum empfindet den Aufenthalt im ländlichen Bereich als langweilig und zu wenig abwechslungsreich. Aber es gibt noch weitere Unterschiede, die ich mit kleinen Anekdoten untermauern möchte.
Als ich Hamburg verließ, um in Stendal eine radioonkologische Klinik aufzubauen, benötigte ich einen Physiker. Unter den zahlreichen Physikern im
UKE in Hamburg kannte ich einen besonders gut und hielt ihn für fähig, den physikalischen Bereich der Klinik aufzubauen und zu strukturieren. Diese Aufgabe hat er auch mit Bravour gemeistert. Allerdings fühlte er sich in Stendal nicht recht wohl. Einmal hatte er ein Schlüsselerlebnis. Beim Einkauf stand er in einer langen Schlange vor der Kasse. Beim
Warten sprach ihn eine Frau an und sagte: "Sie haben aber eine schöne Vase auf dem Klavier!" Die Frau war ihm völlig unbekannt. Dieser eine Satz hat ihn zutiefst erschüttert. Er begriff auf einmal, dass die Menschen seiner Umgebung in der Provinzstadt ihn wahrnahmen und ihn beobachteten. Er selber als Städter war gewohnt, völlig anonym in einer Wohnung zu leben. Jetzt war hier eine Frau, die nicht nur wusste, wo er wohnte, sondern auch, dass er ein Klavier besaß und dass auf diesem Klavier eine Vase stand. Diese Frau fand das völlig normal, dass man seine Nachbarn kennt und beobachtet. Darauf beruht ja auch das ausgeprägte soziale Netz in dünn besiedelten Gebieten und in Provinzstädten. Der Großstädter schätzt diese Beziehungen überhaupt nicht. Er legt großen Wert darauf, nur solche Beziehungen zu
haben, die er selbst aktiv eingeht und billigt. Mein Physiker hat aus diesen und anderen Gründen nach einiger Zeit seine Tätigkeit in Stendal aufgegeben und ist nach Hamburg zurückgekehrt.
Wie eng das soziale Netz in der Provinz ist, belegen zwei weitere Beispiele. In meiner Heimat gab es einen Mann und eine Frau, die ein Verhältnis hatten. Niemand hatte die beiden je zusammen gesehen. Sie wohnten auch in verschiedenen Dörfern. Es war aber bekannt, dass zur gleichen Stunde der
Man und die Frau jeweils von ihren Dörfern in eine bestimmte Richtung gingen. Wo sie sich trafen war völlig unbekannt. Wahrscheinlich hatten sie ein lauschiges Plätzchen mitten im Wald gefunden, wo sie keiner störte. Aber die Beziehung als solche war allgemein bekannt.
Das zweite Beispiel betrifft einen Viehdiebstahl. Es waren von einer Weide mehrere Tiere entwendet worden. Die Polizei nahm die Ermittlungen auf und konnte nach drei Wochen eine Frau finden, die sich an die Autonummer eines Fahrzeuges erinnerte. Ihr war aufgefallen, dass dieses Fahrzeug hier nicht hingehört. Ohne zu wissen, ob das einmal wichtig sein würde, hatte sie die Nummer aufgeschrieben. Durch diesen Hinweis konnten die Diebe gefasst werden.
Dazu ein Gegenbeispiel aus der Großstadt: Ein Mann wird in einer lebhaften Einkaufsstraße in Hamburg mit dem Messer erstochen. Nicht nur, dass keiner ihm zu Hilfe gekommen ist. Es fand sich auch kein Zeuge, der bereit war, eine Aussage zu machen. Jeder hatte Angst, in polizeiliche Ermittlungen verwickelt zu werden und gegebenenfalls vor Gericht aussagen zu machen. Die Anonymität der Großstadt lässt solche Verbrechen zu!
Ein weiteres Beispiel betrifft meine Mutter. Sie war in Berlin und Kiel städtisch geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den Kielern sehr schlecht. Mein Vater war dabei, eine Landarztpraxis aufzubauen. Auf dem Lande
spürte man keine Not. Es gab ausreichend zu essen und viel zu tun. Nach der Heirat zog meine Mutter in das ländliche Leben
nach Legan und hat dort über 40 Jahre mit ihrem Mann zugebracht. Sie hat die wirtschaftliche Seite der Praxis geführt, mich und meine Schwester
aufgezogen und sich intensiv mit Gartenbau beschäftigt. Auch mit den Landfrauen war sie häufig zusammen. Nachdem die Kinder längst aus dem Hause waren, starb mein Vater. Wir kamen aus Hamburg nach
Legan und wollten die Mutter trösten. Zu unserem größten Erstaunen war sie dabei zu packen. Auf die Frage, wohin sie denn mitten in der Nacht wolle, antwortete sie, dass sie in die Stadt ziehen wolle. Über 40 Jahre hatten nicht ausgereicht, um aus dem Stadtmenschen einen Landbewohner zu machen. Sie hatte geduldig den Tod meines Vaters abgewartet. Den Umzug in die Stadt hatte sie lange vorher geplant.
Ich selber bin eindeutig ländlich geprägt. Ich brauche eine gewisse Menge Platz und Entfaltungsmöglichkeit. Der permanente Lärm der Großstadt, der Kraftaufwand des Verkehrs und die persönliche
Enge gefallen mir nicht. Nachdem ich fast 30 Jahre in Hamburg gelebt habe, habe ich eine Position in
der Provinzstadt Stendal angenommen. Auch wenn dies nicht meine Heimat ist, so sagt mir die ländliche Lage viel mehr zu. Ich habe ihr nicht mehr das Gefühl der Einengung und der pausenlosen Störungen durch das Getöse der Großstadt.
Impressum Zuletzt geändert am 05.09.2015 6:43