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Kriegsende 1945

Mein Vater gehörte zu den wenigen Menschen, die freimütig über den Krieg erzählten. Nach dem Untergang der sechsten Armee war er nicht wieder an die Front zurückgekehrt. Im Jahr 1945 zogen sich die Truppen immer weiter aus dem Osten zurück. Mein Vater erhielt einen Marschbefehl nach Berlin Adlershof. Mit einem Fahrrad ausgerüstet machte er sich auf den Weg. Bald war ihm klar, dass es in Berlin nur noch um einen sinnlosen, blutigen Endkampf ging. Hitler machte keine Anstalten dem allgemeinen Sterben ein Ende zu setzen.

Daher beschloss mein Vater, nicht nach Berlin Adlershof zu fahren. Das bedeutete allerdings, dass er jederzeit als Fahnenflüchtiger aufgegriffen und standrechtlich erschossen werden konnte. Er fuhr an Berlin vorbei in Richtung Schleswig Holstein. Dabei fuhr er ausschließlich nachts. Er stieg jeweils auf einen Berg oder einen hohen Baum und beobachtete die Leuchtfeuer. Die wachhabenden Soldaten aller Kriegsteilnehmer pflegten in regelmäßigen Abständen Leuchtkugeln in den Himmel zu schießen und so ihre Anwesenheit zu markieren. Anhand der Leuchtkugeln konnte er deutschen und ausländischen Truppenteilen ausweichen. Tagsüber suchte er sich ein Versteck und versuchte zu schlafen. Es war inzwischen April. Schließlich konnte er die Leuchtkugeln der britischen Armee sehen. Der Norden war noch in deutscher Hand. So konnte er sich unbemerkt bis Schleswig Holstein durchschlagen.

An der Rendsburger Brücke wäre es fast noch schief gegangen. In Rendsburg lagen noch 50.000 deutsche Soldaten, die von etwa 50 SS - Männern an der Kapitulation gehindert wurden. Die SS - Männer waren darauf eingestellt, dass sie nach Kriegsende alle getötet würden. Daher wollten sie die Kapitulation um jeden Preis hinauszögern. Ein SS - Mann bemerkte, dass mein Vater keinen gültigen Marschbefehl besaß und daher als Fahnenflüchtiger hingerichtet werden müsse. Es war, wie gesagt, wenige Tage vor der Kapitulation. Mein Vater hatte jedoch einen schussbereiten Revolver. Er hat mir nie verraten, ob er den SS-Mann erschossen hat oder ihn nur bedrohte. Jedenfalls konnte er sich unverletzt nach Süden absetzen und blieb dann in dem Gasthof Margareten - Mühle bei Stemmermanns in Legan zu Gast.

Mein Vater beschrieb mir auch, wie ihm damals die Bedeutung des nordischen Osterfestes klar wurde. Nach dem grausamen Hunger durch Flucht und Winter konnte man zu Ostern die Eier von Wildvögeln, von Möven, Kiebitzen und Wildenten einsammeln und sich zum ersten Mal den Bauch richtig vollschlagen. So war das Osterfest verknüpft mit den Eiern (von denen in der Bibel ja nichts steht!). Für die nordischen Völker bedeutete der Eiersegen aber das Ende von Kälte, Dunkelheit und Hunger.

Mein Vater geriet dann doch noch in britische Kriegsgefangenschaft. Er hatte sich darauf vorbereitet. Nach bekannt werden des Morgenthau - Plans sollte Deutschland in ein reines Agrarland umgewandelt werden. Mein Vater ging davon aus, dass alle Akademiker hingerichtet würden. Darum hat er alle seine Zeugnisse, auch sein Staatsexamenzeugnis Medizin vernichtet. Bei der Aufnahme in das Gefangenenlager gab er sich als Waldarbeiter aus. Muskulös und breitschultrig wie er war, kam er auch an mehreren Prüfern vorbei. Der letzte Prüfer sei ein Jude gewesen. Der habe sich seine Hände angesehen und gesagt "Sie sind kein Waldarbeiter!" Nun musste er es zugeben, hatte aber auch keinen Schaden davon.

Zurückgekehrt in die Gastwirtschaft Margarete-Mühle richtete er in einem Gastzimmer eine kleine Praxis ein. Niemand hat ihn bis zu seinem Lebensende nach seinem Staatsexamenszeugnis Medizin gefragt. Er konnte fast 40 Jahre ungeprüft als praktischer Arzt seine Tätigkeit ausführen. Noch in der Gastwirtschaft heiratete er meine Mutter und so wurde ich, da der Hausbau noch nicht beendet war, in einer Kneipe geboren.


Impressum                               Zuletzt geändert am 05.09.2015 6:55